In den letzten vier Tagen geben Präsident Obama und Herausforderer Romney im Swingstate Ohio alles, um die Wahl doch noch für sich zu entscheiden. Beide versprechen, Amerika wieder groß zu machen. Aber wer glaubt ihnen?
Wer die Augen schließt, glaubt mitten im Wahlkampf 2008 zu stehen: „Wir brauchen den Wandel. Wir werden Washingtons Kurs ändern, damit Amerikas Ansehen in der Welt wieder leuchtet“, ruft der schlaksige Mann im weißen Hemd in die Menge. „Change“ steht auf seinem Rednerpult in der Industriehalle von Etna, Ohio, „Real Change“.
Doch hinter dem Mikrofon steht nicht Barack Obama, sondern sein Herausforderer Mitt Romney. Vier Jahren nach der Wahl des ersten schwarzen Präsidenten haben sich die Vorzeichen auf den Kopf gestellt: Der Demokrat Obama steht für den miserablen Status Quo, der Republikaner Romney für die Hoffnung auf eine lichte Zukunft.
Es sind nur noch vier Tage bis zur Präsidentschaftswahl, und nach wie vor ist das Ergebnis vollkommen offen. Klar ist nur, dass diese Wahl in Ohio entschieden wird, Umfragen in Ohio einen Vorsprung, aber der ist kleiner als die Fehlermarge dieser Erhebungen.
An diesem Freitag hat Präsident Obama den ersten Aufschlag. In einer zugigen Halle mit Sandboden in Hilliard, wo sonst Viehauktionen veranstaltet werden. Nur wenige Stunden später und ein paar Meilen weiter auf der anderen Seite von Ohios Hauptstadt Columbus antwortet Herausforderer Romney, in einer Industriehalle in Etna.
Beide Männer reden über den Wandel, den Amerika braucht. Und auch sonst hören sich die Gegner bei vielen Argumenten sehr ähnlich an. Am Ende sind ihre Zuhörer restlos überzeugt, auf den richtigen Mann zu setzen. Aber das waren sie zuvor auch schon.
„Noch vier Tage, damit wir weitere vier Jahre Zeit bekommen“, beschwört Barack Obama seine Anhänger in Hilliard. Er ist nicht mehr so euphorisch wie 2008, aber an diesem Tag genauso kämpferisch. Er habe Amerika durch die schlimmste finanzielle Krise seit dem zweiten Weltkrieg geführt und im Gesundheitsbereich sowie bei der Bildung Reformen in Gang gesetzt, für deren Vollendung eine zweite Amtszeit notwendig wäre.
Aber was sein Gegner Romney verspreche, das wiederholt Obama immer wieder, sei kein echter Wandel: „Soll ein Student die Aussicht auf einen Studienplatz verlieren, damit ich weniger Steuern zahlen muss?“
„Noch vier Tage, um zu verhindern, dass es weitere vier Jahre für Obama gibt“, hält Romney in Etna dagegen. In der Halle zwischen gelben Maschinen für Ohios Kohleindustrie sind die Finanzkrise oder der Irak-Krieg für ihn kein Thema mehr. „Wir müssen Amerika wieder stark machen“, ruft er in die Halle, „und ich habe den Plan dafür: echter Wandel von Tag eins an.“ Obama dagegen habe auf ganzer Linie versagt, nichts von dem gehalten, was er versprochen habe.
Ohne Scheu übernimmt Romney, der sich im Wahlkampf vom moderaten zum rechten Republikaner und wieder zurück gewandelt hatte, Obamas Parolen. Es müsse Schluss sein, mit der politischen Polarisierung in Washington, der Blockadehaltung des Kongresses. Die Schulen müssten repariert werden, die Staatsfinanzen saniert, der Mittelstand gestärkt. Lauter Forderungen, die auch Obama unterschreiben würde.
Und doch steht Romney für einen völlig anderen Kurs, für eine ganz andere Philosophie. Er will das Militär stärken, den Staat zurückschneiden. Mehr Beschäftigung habe für ihn Priorität, um jeden Preis. Wo Obama auf eine grüne Energiewende setzt, verlangt Romney die „maximale Nutzung von Gas, Öl, Kohle, Atomenergie“ – und nur ganz am Ende des Satzes, fast ohne Betonung, nennt er erneuerbare Energie.
Es ist fast wie bei den letzten beiden TV-Debatten. Bei diesem Fernduell schenken sich die beiden Kandidaten nichts. Die Anschuldigen fliegen hin und her, Fakten werden interpretiert, wie es passt. Zum Beispiel die aktuellen Arbeitslosenzahlen: Obama berichtet stolz, dass die Zahl der Beschäftigen im Oktober um 171.000 gestiegen ist. Romney betont, dass die Arbeitslosenquote um 0,1 Prozentpunkte gestiegen und damit (um exakt 0,1) über der Marke liegt, die Obama beim Amtsantritt im Januar 2009 übernommen hatte.
Am Ende haben beide Kandidaten ihr Publikum restlos hinter sich. Nur war das keine große Leistung. „Ich habe mir meine Meinung längst gebildet“, sagt die Ärztin Anne Rodgers, „seine Erfahrung, Haltung zur Abtreibungsfrage, Intelligenz und klaren Positionen sprechen für Romney“. Einen Demokraten oder gar Obama zu wählen, räumt sie ein, habe sie nie in Betracht gezogen. Die Umstehenden in Etnas Industriehalle nicken. Hier ist die große Mehrheit im gesetzten Alter. Und alle sind weiß.
Wenige Stunden zuvor hatte sich Grundschullehrerin Kate Harrison in Hilliard genauso entschieden geäußert. Natürlich stimme sie für Obama. Weil er zu seiner Meinung stehe, weil er die Schulen gestärkt habe und für die gleiche Bezahlung von Frauen kämpfe. Die Umstehenden nicken. Hier ist der Altersdurchschnitt deutlich niedriger als bei den Republikanern. Und viele der Zuhörer sind schwarz.
Die Teilung Ohios, die Teilung ganz Amerikas, in ein demokratisches und ein republikanisches Lager, hat sich unter der Präsidentschaft von George W. Bush verhärtet, unter Barack Obama hat es sich zementiert. Eine Brücke über diese Kluft zu schlagen scheint kaum möglich, weder in Ohio noch in Washington.
Aber mindestens eben so tief ist eine andere Kluft: zwischen den Politik-Gläubigen und den bitter Enttäuschten. Sie lassen sich bei keiner Wahlveranstaltung sehen, ertragen das Dauerfeuer der politischen TV-Werbung nur mit Zynismus, und gewinnen an Zulauf.
„Ich wähle keinen von beiden“, sagt John Milock, ein 35jähriger Grafikdesigner. Denn beide Politiker würden wie gedruckt lügen, „Ok, Obama etwas weniger als Romney, aber allenfalls mit einer Rate von einer Lüge pro Minute weniger.“ Stattdessen werde er für Gary Johnson stimmen – einer der drei unabhängigen und völlig chancenlosen Kandidaten, die am 6. November ebenfalls auf dem Wahlzettel stehen.
Diese Haltung ist kein Einzelfall, sondern Ausdruck der Verunsicherung vieler Wähler. Gary Johnson nennt auch die Kellnerin Kelly Murphy als ihren Wahlfavoriten. Dass sie ihre Stimme damit verschenkt, ist ihr klar – aber von Obama ist die alleinerziehende Mutter tief enttäuscht, Romney glaubt sie kein Wort.
Dabei geht es auch ihr um „Change“, den die beiden Präsidentschaftskandidaten so sehr beschwören. „Wir brauchen den Wandel doch so dringend, eine neue Richtung“, sagt Murphy. Welche? Das wisse sie auch nicht – „aber mein Verdacht ist, dass all die anderen das auch nicht wissen.“
Am Wahltag, das betonen Romney und Obama bei ihren Auftritten fast wortgleich, laufe es immer auf die Frage hinaus, welchem Kandidaten die Menschen mehr vertrauen. Doch was ist, wenn immer mehr Amerikaner weder Romney noch Obama trauen?
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Dieser Beitrag ist Teil eines Reise durch einige US-Bundesstaaten, die bei der Wahl am kommenden Dienstag besonders wichtig sind. Weitere Fotos gibt es hier, die Reiseroute sieht so aus:
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